Dauerbelastung Corona: Und die Psyche?

30.11.2020

„Als Covid-19 im März auch in Europa aktuell wurde, habe ich mich als Psychiater gefragt, welche Auswirkungen die durch das Virus entstandenen Folgen auf die psychische Gesundheit haben würden. Als Herr R. ein 44-Jähriger Angestellter bei mir vorstellig wurde, verstand ich sofort, dass sie gravierend sein würden. Herr R. war vor drei Jahren wegen eines Burnouts behandelt worden. Seine Alkoholsucht hatte er erfolgreich im Griff. Bis er ins Homeoffice wechseln musste und nebenbei auch noch das Homeschooling für die Kinder zu betreuen hatte. Die Kontrolle durchs Arbeitsumfeld war plötzlich weg, und er machte sich abends wieder ein Bier auf. Es blieb nicht bei dem einen…

Oder die 56 Jahre alte alleinstehende Lehrerin, die eine bipolare Störung hat. Seit fünf Jahren war sie stabil, es ging ihr gut. Dann kam Corona. Bereits im ersten Lockdown war ihre Situation kritisch, nun im zweiten rutschte sie in eine schwere depressive Phase. Ihre wenigen Freundinnen mieden den persönlichen Kontakt mit ihr, da sie als Lehrerin viel Interaktion hat. 

Frau F. ist bereits seit Jahren meine Patientin. Eine Panikstörung schränkte ihr Leben ziemlich ein. In vielen Schritten kam sie an den Punkt, sich wieder zu exponieren. Sie konnte Zug fahren oder selbstständig einkaufen. Seit Corona hat sie sich wieder zurückgezogen und die Ängste haben sich erneut verstärkt. Schwierig, ihr aktuell zu helfen: Normale Techniken der Psychotherapie, etwa das Erklären oder die Garantie, dass eine Zugfahrt oder das Stehen in der Schlange an der Kasse völlig ungefährlich seien, greifen nicht. 

Herr M., ein 25 Jahre alter MS-Patient, hat bereits mehrere Schübe der Krankheit erlebt und wurde wegen Depression behandelt. Die Therapie mit seinem MS-Medikament musste er unterbrechen, da er zur Hochrisikogruppe gehört und Corona in einem Fall der Erkrankung noch ausgeprägter wäre. Zusätzlich litt er unter der Einsamkeit und Abgeschiedenheit. 

Frau K. hingegen hatte bis März nie psychische Probleme. Die Juristin arbeitete bei einer großen Kanzlei und ging in ihrem Beruf auf. Im April wurde sie aufgrund von Corona-bedingten Maßnahmen und Personalabbau entlassen. Die Folge: eine reaktive Depression, also eine Anpassungsstörung aufgrund des einschneidenden Ereignis. 

Ein Arbeitstag in meiner Praxis beginnt seit Monaten mit Desinfektion der Flächen, lüften und putzen der Plexiglasscheibe, die Patient und mich noch besser schützen soll. Für meine Patienten habe ich eine Corona-Schleuse eingerichtet, das heißt, sie verlassen die Praxis über die Terrasse, auch sind sie gebeten, nicht zu früh zum Termin zu kommen, um keinen Aufenthalt im Warteraum zu haben. In der Phase des ersten Lockdowns behandelte ich Patienten auch per Video, was gut zum Überbrücken war, den persönlichen Kontakt aber in keinster Weise ersetzt. Vereinzelt führte ich auch Hausbesuche durch, natürlich mit Abstand und einer FFP3-Maske. Ab dieser Woche ist das Tragen eines Mundschutzes während der Behandlung auch in der Schweiz wieder verpflichtend. Nichtsdestotrotz steht die Zürcher Gesellschaft für Psychotherapie und Psychotherapie dafür ein, dass man die Masken während der Sitzungen abnehmen darf, da es für die therapeutische Beziehung besser ist. 

Die fünf Beispiele aus meiner Praxis zeigen die vielfältigen Folgen von Covid-19. Wenn wir von Corona sprechen, dürfen wir die psychische Gesundheit nicht außer Acht lassen. Wir müssen vor allem als Gesellschaft zusammenhalten und uns gegenseitig stützen, der Einsamkeit und Zurückgezogenheit trotzen, Möglichkeiten zum Austausch, Gespräche und tragfähige Beziehungen den Einschränkungen entsprechend pflegen. Wir zusammen – gegen das Virus!”

Michael Pramstaller, Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie in eigener Praxis (Uetikon am See, Kanton Zürich), Delegationsarzt am Ambulatorium für Verhaltenstherapie der Universität Zürich

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